Klangraum Nordosteuropa – eine noch junge Erfolgsgeschichte.
War der nordosteuropäische Raum bis in die 1970er-Jahre im internationalen Musikbetrieb ohne nennenswerte Resonanz geblieben, so drängt er seit ein paar Jahrzehnten mit aller Macht auf die Bühnen und Festivals in aller Welt. Mit der überwältigenden Präsenz sind gleichzeitig Umfang und Qualität des musikalischen Outputs in einem Maße gestiegen, das Staunen macht und die Frage nach den Ursachen für eine Entwicklung aufwirft, die an Rasanz nicht ihresgleichen hat. Zunächst bedarf es eines kurzen Blicks auf die zumeist durch Kriege bedingten geopolitischen Veränderungen in Nordosteuropa, einer Region, die schon bezüglich der räumlichen Abgrenzung Probleme aufwirft. Bei »CLASSIX Kempten « sind die Länder Finnland, Estland, Lettland, Litauen und Polen in die Repertoires einbezogen worden. Aus dem eigentlich zugehörige Nordwesten Russlands ist einzig Juliusz Zarębski, zwar aus einer polnischen Familie stammend (und sich als Pole betrachtend), jedoch im ukrainischen Schitomir geboren, berücksichtigt worden.
Ein einfacher Blick auf die Landkarte Europas macht deutlich, dass es bei den politischen Machtinteressen im Nordosten Europas und den in den beiden zurückliegenden zwei Jahrhunderten häufig veränderten Staatsgrenzen oder auch nur Machtverhältnissen innerhalb fortbestehender Grenzen die kleinen Völker oft schwer hatten, ihre kulturelle Identität zu bewahren. Besonders die Situation der baltischen Länder, beinahe erdrückend eingeklemmt zwischen so mächtigen Ländern wie Russland, Polen und auch dem teilweise selbst betroffenen Finnland, hat eine eigenständige Entwicklung vielleicht lange Zeit be-, nicht aber verhindert. Dazu kommt, dass es auch galt, sich den Einflüsse der musikalischen Hegemonialmacht aus dem deutschsprachigen Raum Mitteleuropas nur so weit zu öffnen, als es die eigenen nationalen Wurzeln nicht beschädigte. Die besondere Bedeutung, die dabei der Sprache zukommt, hat die auf Bewahrung der traditionellen Kultur gerichteten Anstrengungen zusätzlich erschwert. Denn gerade die identitätsstiftende Einheit der Sprache ist immer wieder durch politische Vorgaben, besonders aber durch Siedlungsbewegungen, beginnend mit den Gründungen der Hansestädte und endend mit der Okkupation durch das Sowjetreich mit der Folge, dass Russisch im Baltikum noch heute für weite Bevölkerungskreise die dominierende Sprache ist, in Gefahr geraten.
Bei der Suche nach Gemeinsamkeiten bei der kulturellen Entwicklung dieser europäischen Randregion stellt man schnell fest, dass es diese nur in geringem Ausmaß gibt. Die Abwehr durchlittener oder – bis in unsere Tage – als Bedrohung empfundener Bevormundung durch den übermächtigen Nachbarn im Osten könnte eine Art Zusammengehörigkeit erzeugen. Der innere Widerstand gegen den drohenden Verlust der kulturellen Identität hat insbesondere in den baltischen Ländern die Kulturschaffenden zusammenrücken lassen. Dass es dennoch getrennte Welten geblieben sind, zeigt sich jetzt nach der wieder gewonnenen Freiheit, die all die gewaltsam unterdrückten Entwicklungen der nationalen Kulturen explosionsartig freigesetzt hat, ohne eine einheitliche Richtung vorzuschreiben.
Wenn der Eindruck nicht trügt, dann ist der Gipfel der Popularität nordosteuropäischer Musik auch bei uns noch lange nicht erreicht. Nicht nur Komponisten haben Eingang in die Repertoires auf unseren Bühnen und bei den Festivals gefunden. Auch ausübende Musiker, Instrumentalisten wie Dirigenten, allesamt zu den Spitzen ihres Fachs zählend, sind allgegenwärtig. Wenngleich Finnland dabei eine Vorreiterrolle übernommen hat, ist das wachsende Potential der kleinen baltischen Staaten und auch Polens nicht mehr zu übersehen. Längst ist die einst bahnbrechende Rolle von Komponisten wie die des Esten Arvo Pärt, von Instrumentalisten wie die des Letten Gidon Kremer oder von Lehrern wie die des Esten Heino Eller (mit Schülern wie Arvo Pärt, Eduard Tubin oder Jaan Rääts) auf einer breiteren Basis angekommen, die belastbar genug für eine dauerhafte Etablierung erscheint. Es wird sich zeigen, ob dabei auch eine Art Bindeglied zwischen West und Ost auf kulturellem Gebiet entstehen kann. Angesichts der tiefen Wunden, die in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts geschlagen worden sind, ist dafür die Zeit wohl noch nicht gekommen.
Am schnellsten hat sich Finnland von der kulturellen Klammer seiner Nachbarn, zu denen auch Schweden zu zählen ist, befreit, was mit der Randlage, aber auch der Weite des Landes zu tun hat. Zum anderen ist dort, anders als im Baltikum und Polen, zur Umarmung Sowjetrusslands nicht auch noch die deutsche Besetzung dazugekommen, die beispielsweise in Ostpreußen, Schlesien oder im heute wieder litauischen Memelland ihre kulturellen Spuren hinterlassen hat. Nicht allein die revolutionären Umbrüche und Kriege, auch die aus anderweitigen Gründen erfolgten Migrationsbewegungen mit ihren schleichenden, oft nicht sofort erkennbaren Auswirkungen galt es folglich von den am Erhalt oder der Wiedergewinnung kultureller Identität Interessierten zu bewältigen.
Dabei wird erst jetzt erkennbar, dass es natürlich schon früher wenngleich nur einzelne aber starke Wurzeln gegeben hat, die nun ausgeschlagen haben. Besonders deutlich wird dies am »Schwergewicht« Finnland, dessen musikalische Entwicklung sich bis in unsere Tage weitgehend auf den »Übervater« Jean Sibelius, dessen 150. Geburtstags in diesem Jahr zu gedenken ist, beziehen konnte. Eine schon früh einsetzende Besinnung auf diese Verankerung im internationalen Musikbetrieb, verknüpft mit einer sehr effektiven Kulturförderung, hat den Boden bereitet für das, was man eine finnische Revolution der europäischen Musik bezeichnen könnte. Wenn heute das Land noch vor Sauna und Rallyesport mit seiner kulturellen Modernisierung in unser Bewusstsein gedrungen ist, hat die musikalische Entwicklung, gleichermaßen in E-Musik, Pop, Rock und Jazz, daran einen großen Anteil.
Eine nicht zu unterschätzende Rolle bei diesen Vorgängen spielt die begeisterte Resonanz bei der jeweiligen Bevölkerung. Der Zustrom zu den Veranstaltungen der ungewöhnlich großen Zahl von Festivals, auch hier wieder jeder Couleur, ist ungebrochen und demonstriert das ganze Gegenteil der hierzulande grassierenden Publikumskrise. Selbst der bei uns davon besonders betroffene Bereich der etablierten Avantgarde- Szene spürt beispielsweise in Finnland keinerlei Gegenwind. Es mag sein, dass die in den allermeisten Fällen bewusst angestrebte Kommunikation mit dem Publikum und der damit einhergehende Charakter der musikalischen Sprache, in der westlichen Avantgarde oft ebenso bewusst ignoriert, dabei eine Rolle spielt. Es ist bemerkenswert, dass einige der heute im E-Musikbetrieb etablierten Komponisten in der Rock-Szene ihre ersten Erfahrungen machten.
Tauchen Sie bei unserem Festival in die so gar nicht verklausulierte Welt der nordosteuropäischen Musik ein, lassen Sie sich gefangen nehmen von den oft verhangenen Klängen aus dem reichen Fundus der baltischen Schätze, die, oftmals noch unveröffentlicht, der Entdeckung harren. Und gehen Sie mit unseren, vielfach aus jener Region Europas stammenden Musikern auf die Suche nach den Gemeinsamkeiten und auch den Unterschieden einer Musikkultur, die nur bei oberflächlicher Betrachtung den irrigen Eindruck eines geschlossenen Kulturkreises vermittelt. Betrachten Sie die Komponisten unseres Festivals als Botschafter einer Strömung unverbrauchter Begeisterung, die einen Beitrag zur Reanimation unseres heimischen, der Gefahr des Erschlaffens anheim fallenden Kulturbetriebs leisten könnte. Eine jüngst erschienene Rezension zu einer CD-Veröffentlichung mit Werken unseres in der ersten Liga angekommenen Composer-in-Residence ist geeignet, diese Hoffnung zu nähren: »Sebastian Fagerlund ist bestrebt, trotz seines Wunsches, ganz in der und für die Gegenwart zu schreiben, nicht in unzugänglicher Elfenbeinturmkunst zu landen.«