Gibt es eine »weibliche Musik«?
»Der genaue Wert meiner Musik wird wahrscheinlich erst dann erkannt werden, wenn nichts von mir übriggeblieben ist als geschlechtslose Punkte und Striche auf liniertem Papier … Wenn das kümmerliche Rinnsal eines persönlichen Schicksals mit dem Strom menschlicher Erfahrungen davongetragen wird; wenn auch nur ein Quäntchen von alledem ins Werk eines Künstlers einfließt, lohnte es sich, dieses Werk verfasst zu haben. Und sollten andere jetzt oder nach meinem Tod nur ein schwaches Echo eines solchen Geistes in meiner Musik erfassen, dann ist alles gut, und mehr als gut.« (Ethel Smyth)
Bei jedem Versuch, in die Thematik weiblichen Komponierens einzutauchen, landet man unweigerlich bei der Gleichberechtigungsdiskussion und läuft Gefahr, sich in einer unendlichen und oft mit harten Bandagen geführten Emanzipationsdebatte zu verlieren. Das feministische Lager hat sich der Problematik einer angemessenen Präsenz von Komponistinnen im Kulturbetrieb nicht zu Unrecht angenommen und dominiert (mit unterschiedlichem Erfolg) die Bemühungen um eine gebührende Wahrnehmung und Anerkennung bei Publikum, Veranstaltern und Verlagen.
Das Kammermusikfestival CLASSIX Kempten 2017 will jedoch ungeachtet des aktuellen Themas keine feministische Debatte über Gründe und Folgen der erkennbaren Ausgrenzung von Komponistinnen aus dem Musikbetrieb bis in die heutige Zeit eröffnen. Es geht vielmehr ganz einfach darum, anhand einer Palette von Stücken, die selbst Kennern des Themas Frau und Musik oft unbekannt sind, die nur selten ernsthaft thematisierte Situation zu beleuchten und Interesse zu wecken, sich näher (und vor allem häufiger) damit zu beschäftigen: vorurteilsfrei und ohne gönnerhafte Attitüde. Damit soll den ausgewählten Werken von Komponistinnen aus zwei Jahrhunderten der Raum gegeben werden, nicht, wie so oft, in ideologischen Grabenkämpfen zerrieben zu werden, sondern ganz einfach als das wahrgenommen zu werden, was sie allein sind: großartige Schöpfungen, die es nicht nötig haben, ein geschlechtsspezifisches Etikett angeklebt zu bekommen.
Das erste deutsche Musiklexikon von Johann Gottfried Walther (Leipzig 1732) führt bereits Namen von Komponistinnen auf wie Maddalena Casulana Mezari, Vittoria Raffaella Aleotti, Barbara Strozzi, Élisabeth-Claude Jacquet de La Guerre und nennt praktizierende Musikerinnen wie die Geigerin und Vivaldi-Schülerin Anna Maria dal Violin (1696 – 1782), die Violdagambistin Dorothea vom Ried (* im 1. Drittel des 17. Jahrhunderts) sowie eine große Zahl meist italienischer Sängerinnen. Die »gewissen Weiber«, die »auf verschiedenen Instrumenten spieleten und dadurch junge Kerl an sich lockten « und sich »sonderlich in Circo, den Bädern und andern Orten aufhielten, wo es lustig zugieng«, waren von der »seriösen‹ « Fraktion reinlich getrennt. Da muss die Bemerkung zum Thema Künstlertum und Dilettantismus in meinem Exemplar von Spemanns goldenes Buch der Musik aus dem Jahr 1904 als ein unverzeihlicher Rückschritt bezeichnet werden, wo es heißt: »Die Sphäre des ersteren [Künstlertum] ist die Ausübung der Musik, zu der allein eine wirkliche künstlerische Begabung berechtigt … Stattdessen treffen wir bei unseren Dilettanten nur allzu häufig ›zwangvolle Plage, Müh ohne Zweck‹ … unter den Händen unserer klavierspielenden Dilettanten, namentlich der weiblichen … Die vielberufene ›höhere Tochter‹ macht auch das musikalische Gebiet in bedenklicher Weise unsicher …« – eine Einstellung, wie sie sich in gottlob in zunehmend abschwächender Form bis in unsere Tage fortsetzt.
Zunächst freilich verfestigte sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Ausgrenzung von Frauen aus den kreativen Prozessen der bürgerlichen Musik, nicht zuletzt dank gewichtiger Unterstützer. So findet sich 1764 bei Immanuel Kant ein Artikel mit der Überschrift Von dem Unterschiede des Erhabenen und Schönen in dem Gegenverhältnis beider Geschlechter, der einen sich höchst hartnäckig behauptenden Dualismus anzettelte, in dessen Windschatten, unter Berufung auf oberste Instanzen, den Geschlechtern bestimmte Eigenschaften und mithin auch Qualitäten zugeordnet werden konnten. Eine anonyme Abhandlung aus 1781 bringt unter dem Titel Der große Geist oder das Genie diese Sicht auf den Punkt mit der Feststellung, Frauen hätten keinerlei Abstand zu sich selbst und ihren privaten Gefühlen. Gegenstand ihrer bescheidenen künstlerischen Versuche seien daher einzig und allein subjektive Emotionen, nicht jedoch das, was die Allgemeinheit interessiere.
Selbst eine Vielzahl angesehener Musiker hat zur Verfestigung der Vorurteile und der damit einher gehenden Ausgrenzung beigetragen. Ob Richard Strauss quasi dekretierte: »Komponieren ist nun einmal Männersache, und daran ist nicht zu rütteln …« (zit. nach Eva Rieger), der Junggeselle Johannes Brahms äußerte: »Es wird erst dann eine große Komponistin geben, wenn der erste Mann ein Kind zur Welt gebracht hat.« oder Franz Liszts Schwiegersohn, der Dirigent Hans von Bülow, mit seinem Rundumschlag: »Reproduktives Genie kann dem schönen Geschlecht zugesprochen werden, wie ein produktives ihm unbedingt abzuerkennen ist. Eine Komponistin wird es niemals geben, nur etwas eine verdruckte Kopistin. Ich glaube nicht an das Femininum des Begriffs ›Schöpfer‹. Im Tod verhasst ist mir alles, was nach Frauenemanzipation schmeckt.« – die Vor-, ja sogar Alleinherrschaft der Männer über die Kreativität schien mit höchsten Weihen abgesegnet zu sein.
Eine mutige Gegenposition vertritt dagegen Alfred Michaelis 1888 in seinem als Streitschrift zu verstehenden Büchlein Frauen als schaffende Tonkünstler – Ein biographisches Lexikon, wo er im Vorwort feststellt: »In schroffer und geradezu ungerechter Weise hat man bis jetzt nach allgemein herrschenden Ansichten und Urteilen mit wenigen Ausnahmen der Frauenwelt alle oder doch bedeutsame musikalische Erfindungskraft abzusprechen gesucht, obwohl es doch fast zu allen Zeiten nie an Gegenbeweisen gefehlt hat.« Wenn inzwischen die Situation der Musik von und mit Frauen auf dem besten Weg ist, sich den gebührenden Platz im Musikbetrieb zu erobern, so ist das gegen den oft erbitterten Widerstand der männlichen Kollegen gelungen. Gender- Institute und Frauenmusik-Festivals sind gegründet worden und eine kaum mehr überschaubare Flut an einschlägigem Schrifttum beschäftigt sich mit dem Thema, in das sich zunehmend auch fundamentalistische Kreise massiv eingemischt und es für eine allgemeine Gleichberechtigungsdebatte in Anspruch genommen haben. Dass dabei einige seit Jahrzehnten im Vordergrund stehende Aktivistinnen im Übereifer manchmal schlecht recherchierte Legenden gestrickt haben, mag zu verzeihen sein, ist jedoch selbst im feministischen Lager gelegentlich auf Widerstand gestoßen und ist natürlich all den unverbesserlichen Vertretern der These einer ausschließlich Männern vorbehaltenen Kreativität willkommene Munition. Dazu passt ein im Jahr 1998 (!) in der FAZ veröffentlichter Leserbrief eines Prof. Dr. Walter Rummel: »Die Tatsache, daß es weniger Komponistinnen als Komponisten … gibt, beruht sicher nicht darauf, daß Frauen der Zugang verwehrt ist. … Es bleibt meist unberücksichtigt, daß die genetisch verankerten, geschlechtsspezifischen Unterschiede nicht nur auf den körperlichen Bereich beschränkt sind«. Das gehört zu den unbegreiflichen Spätfolgen einer Debatte, die wohl nie von allen Betroffenen wirklich ernsthaft und im Hinblick auf ein offenes Ergebnis ehrlich geführt worden ist.
Wer also erwartet hatte, CLASSIX Kempten werde sich der Debatte um die Hintergründe stellen, die – einzeln oder in Kombination – dazu führen konnten und noch können, dass eine Komponistin keine reale Chance erhält, sich zu entwickeln oder sich Gehör zu verschaffen, muss enttäuscht werden. Denn das kann eine Woche, die ja in erster Linie der Musik komponierender Frauen gewidmet ist und nicht der Debatte, nicht leisten. Was in den Proben und Konzerten des Festivals präsentiert wird, soll für sich sprechen und zeigen, dass Bonuszuteilungen nach dem Motto »… wie gut ein Werk doch sei, obwohl …« fast noch peinlicher sind als die pure Ignoranz. Frauen brauchen keine Quoten- Komponistinnen!
Der Komponist Viktor Suslin berichtet im Vorwort zur Werkliste des Verlags Sikorski von Galina Ustvolskayas Widerstand gegen nur Komponistinnen vorbehaltene Festivals mit feministisch-fundamentalistischen Ambitionen. Seine Kollegin, eine der prägenden Musikerpersönlichkeiten Russlands im 20. Jahrhundert, die nie als »komponierende Frau« bezeichnet werden wollte, lehnte derartige Festivals ab, da diese einer Gleichberechtigung widersprächen. »Was das Festival der Frauenmusik betrifft, so möchte ich folgendes sagen: Ob wirklich zwischen einer Männer- und einer Frauenmusik unterschieden werden kann? Wenn heute Festivals der Frauenmusik durchgeführt werden, so sollte es mit der gleichen Berechtigung auch Festivals der Männermusik geben. Ich bin aber der Meinung, dass solch eine Trennung nicht existieren darf. Es soll nur die echte und starke Musik erklingen! Eigentlich bedeutet die Aufführung im Rahmen von Frauenmusikveranstaltungen für die dargebotene Musik eine Demütigung.«
Zurück zum Titel dieses Artikels: Gibt es eine »weibliche Musik«? Die Komponistin Violeta Dinescu hat in einem Interview auf diese Frage geantwortet: »Ich weiß es nicht. Wenn man ohne zu wissen, wer komponierte, die Musik wahrnimmt, glaube ich nicht, dass man identifizieren kann, ob der Komponist weiblich oder männlich war. Was beim Schöpfungsprozess passiert, ist nach diesem Gesichtspunkt, glaube ich, schwer zu identifizieren. Die Hefte von Beethoven, die aufbewahrt worden sind, zeigen einen einmaligen Arbeitsprozess – ich bin mir aber sicher, dass auch eine Frau diese Arbeitsweise haben könnte: intuitiv, spontan … wie ein Fresko.« Das verehrte Publikum ist also eingeladen, vorurteilsfrei einzutauchen in eine noch weitgehend unerschlossene Welt herrlichster Werke aus der Feder von Komponistinnen und dabei das Versprechen der Veranstalter mitzunehmen, bei künftigen Repertoiregestaltungen auf Chancengleichheit abseits jeder Bonusregelung zu achten.
Lassen Sie mich zum Schluss noch eine Rezension des Komponisten und Musikkritikers Émile Vuillermoz in der Zeitschrift Musica vom Juli 1913 anfügen, die zum aufsehenerregenden Erfolg der Komponistin Lili Boulanger (im Konzert II am 28.9. im Programm vertreten) beim berühmten Kompositionswettbewerb Prix de Rome erschienen ist:
»Vor mehreren Monaten warnte ich Musiker an dieser Stelle vor einer immanenten ›rosa Gefahr‹: Die Tatsachen ließen nicht lange auf sich warten, um mir Recht zu geben. Mlle. Lili Boulanger hat im diesjährigen Rom-Wettbewerb über alle ihre männlichen Konkurrenten triumphiert und gewann den Ersten Großen Rompreis auf Anhieb (das erste Mal in der Endrunde), mit Souveränität, Tempo und Leichtigkeit; was die übrigen Kandidaten einigermaßen verstört zurückgelassen hat, schwitzten sie doch seit Jahren Blut und Wasser, um sich dem Preis unverdrossen zu nähern. Damit kein Irrtum aufkommt: Der Sieg ist hart verdient. Es war nicht so, dass die Juroren ihr ritterlich den ersten Platz überließen. Im Gegenteil, sie verfuhren mit dem 19-jährigen Mädchen sogar noch strenger als mit den übrigen Bewerbern. Die Frauenfeindlichkeit der Jury war bekannt. Der Eintritt einer Eva in das irdische Paradies der Villa Medici wurde von gewissen Patriarchen als totale Katastrophe gefürchtet. Der Präzedenzfall bei den Bildhauern (Mlle. Lucienne Heuvelmans, Bildhauerin, hat den Prix de Rome von 1911 gewonnen und lebt bereits in der Villa Medici) vermochte ihre Aufregung nicht im Mindesten zu lindern. Folglich wurde die weibliche Kantate mit gnadenloser Aufmerksamkeit gehört, was ihr in dieser Atmosphäre den Stellenwert einer beeindruckenden und bedrohlichen feministischen Präsentation gab. Und es bedurfte der überwältigenden und unbestreitbaren Überlegenheit dieses Werks einer Frau, um über die Hausaufgaben der Studenten, in deren Gesellschaft sie sich befand, zu triumphieren.«
Nach diesem »tröstlichen« Schlusswort sind dem Publikum viele berührende Stunden zu wünschen, wenn es zum Auftaktkonzert heißt: Das Festival 2017 ist eröffnet!
Dr. Franz Tröger