Klassische Musik aus Südosteuropa – wie bitte?
Wer sich dem Thema unseres Kammermusikfestivals, »Fundstücke – Unbekanntes Südosteuropa«, nähert, kommt nicht umhin, sich zunächst mit der wechselvollen Geschichte dieses Gebiets, mit den politischen, ethnischen und religiösen Umwälzungen zu beschäftigen, die eine kulturelle Entwicklung geprägt – und oft genug behindert – haben. Die wechselvollen Grenzziehungen, auch vielerlei Ansiedlungen aus anderen Regionen Europas, sei es aus dem Raum Österreich-Ungarns oder durch die Siebenbürger Sachsen und die Donau- Schwaben, die jeweils ihre eigene Kultur mit- und nur selten eingebracht haben, sind für einen regelrechten Flickenteppich verschiedenster Entwicklungen in engster Nachbarschaft auch und gerade auf musikalischem Gebiet verantwortlich. Da diese vergleichsweise kleinen »Kulturinseln« zumeist kaum interagiert, ihre kulturellen Identitäten eher abgeschottet haben, ist eine einheitliche Betrachtung zur Musik Südosteuropas nicht möglich. Auch bei der Recherche, auch im Internet, stellt man fest, dass es eine Gesamtschau nicht gibt. Vielmehr stößt man auf eine Reihe von Abhandlungen von Vereinigungen, die mit arger Ignoranz gegenüber den originären musikalischen Errungenschaften der südosteuropäischen Volksgruppen den Vorrang der deutschen Beiträge, etwa in Siebenbürgen oder im Banat, beschwören. Sie erwecken den Eindruck, es habe sehr wohl eine einheitliche Entwicklung – freilich unter deutscher Schirmherrschaft – gegeben, ohne jedoch die ursprünglich dort ansässigen Musiker zu berücksichtigen. Dass die Globalisierungswelle, die längst auch kulturelle Dämme aufgebrochen und natürlich auch ein am Rande liegendes Territorium wie den Südosten Europas erreicht hat, in Zukunft zu einer gewissen Einebnung führen wird, ist zu erwarten, muss aber nicht unbedingt begrüßt werden.
Die uns hier interessierende Beschäftigung der Akteure mit der Kunstmusik in unserem Sinne hat zu den unterschiedlichsten Zeiten eingesetzt. Häufig haben religiöse, oftmals auch kulturpolitische Einflüsse eine freie Entwicklung behindert. Der allein beständige Aspekt war jeweils die Volksmusik in ihren oft eng begrenzten Regionen, die dann freilich als fruchtbarer Humus für viele der nachmals beachtenswerten Musiker dienen konnte. Nicht jeder Komponist hat es dabei geschafft, dem Kerker der Folklore zu entkommen und auf Grundlage des vorgefundenen Materials mehr zu entwickeln als den populären Melodien ein gefälliges Mäntelchen umzuhängen. Die aber, denen es gelungen ist, unter Einbeziehung dieses Materials eine eigene Tonsprache zu finden und dabei auf die Bestände der gesamten Region, etwa auf die Ergebnisse der oft über viele Jahre hinweg sammelnden Volksmusikkundler wie Bartók, Kodály oder Saygun zuzugreifen, konnten mit dem Beginn einer echter Nationalmusik ihrer jeweiligen Heimat aufwarten.
Seither rundet sich nach und nach das Panorama der Nationalkomponisten der klassischen Moderne vom Balkan bis nach Anatolien: Béla Bartók in Ungarn, George Enescu in Rumänien, Josip Štolcer-Slavenski in Kroatien, Pancho Vladigerov in Bulgarien, Nikos Skalkottas in Griechenland, Ahmed Adnan Saygun und Ulvi Cemal Erkin in der Türkei, Marko Tajčević in Serbien, Slavko Osterc in Slowenien und andere in Albanien, Mazedonien und den übrigen Teilen des früheren Jugoslawien. Dass dabei jede der Regionen ihre eigene Ausprägung erfahren und ihren eigenen Umgang mit den musikalischen Entwicklungen des 20. Jahrhunderts gefunden hat, kann in den Konzerten des Festivals nachgehört werden. Dass die Festivalwoche angesichts der überwältigenden Bandbreite unseres Themas (wieder einmal) viel zu kurz ist, um alle unsere Fundstücke zu präsentieren, muss(te) in Kauf genommen werden. »Die Wiege der europäischen Musik liegt im Südosten, und je weiter wir uns via Balkan gen Syrien bewegen, desto mehr scheint uns das zu umfangen, was wir als ursprüngliches Musizieren erleben.« Christoph Schlüren hat das in einem fundierten Beitrag für den Bayerischen Rundfunk thematisiert. Und zu den oft höchst gegensätzlichen Positionen derer, die die Volksmusik des südosteuropäischen Raumes auch für uns sicht- respektive hörbar gemacht haben, befindet er am Beispiel der beiden wohl prominentesten (und nachhaltig einflussreichsten) Exponenten George Enescu und Béla Bartók: »George Enescu sah sich zu keinem Zeitpunkt – wie etwa sein exakter ungarischer Zeitgenosse Béla Bartók – als Forscher, der das Wurzelwerk unserer Musikkultur freilegen und einen wissenschaftlichen Überblick hätte auftun wollen. Bei Enescu geschah der Umgang mit den Wurzeln auf eine integrative Art … verschmolzen die ihn prägenden Traditionen der Volksmusik seiner frühesten Kindheit und der klassischen Musikkultur …«
Aus all dem mögen Sie ablesen, dass unser Festival kein einheitliches Bild der gewählten Region zeichnen wird, weil es das gar nicht gibt. Es werden Solitäre präsentiert, die stellvertretend für die vielen regionalen Ansätze stehen, den Anschluss an die Entwicklungen im übrigen Europa zu finden, ohne die heimatlichen Wurzeln zu verleugnen. Es ist wie eine neue Welt, in die es ohne Vorbehalte einzutauchen gilt, eine Welt voller verborgener Schätze, die zu heben sind – Fundstücke eben.
Dr. Franz Tröger