E-Musik aus Nordamerika?
»That is no country for old men.«
William Butler Yeats, 1926 in »Sailing to Byzantium«
Als nach dem fulminanten Erfolg des »Jubiläums« mit der Musik Nordosteuropas der Fokus auf den nordamerikanischen Kontinent gerichtet wurde, konnten sich die Festivalplaner noch nicht vorstellen, wie reichhaltig und vielgestaltig diese Reise werden würde. Denn auch für sie galt die E-Musik aus den USA als vernachlässigtes Repertoire und war in seiner ganzen Bandbreite nur undeutlich geläufig. Es war somit ein ideales Feld für die Absicht, mit unserem Festival Kammermusik für Entdecker zu präsentieren.
Komponisten des nordamerikanischen Kontinents waren noch bis vor wenigen Jahren bei uns, abgesehen von den großen Musikzentren und den Funkanstalten, völlig unbekannt und niemand wäre auf die Idee verfallen, etwa der E-Musik-Entwicklung in den USA, Kanada und Mexiko besonderes Augenmerk zu widmen. Zu sehr wirkte (und wirkt noch heute) das Vorurteil der mangelnden Potenz in Sachen Kultur nach tradierten europäischen Vorstellungen – zumindest was den schöpferischen Aspekt anbetrifft. Bezüglich interpretatorischer Belange musste nämlich angesichts der großen Zahl hervorragender Solisten, Dirigenten und Orchester schon längst die liebgewordene Vorstellung von der unverrückbaren Vorherrschaft der alten Welt revidiert werden und die Ursachen dieser Verlagerung sind nicht allein dem Exodus des größten Teils namhafter Künstler aus dem Machtbereich der NS-Herrschaft in den 1930er Jahren zuzuschreiben. Dennoch hat diese Erkenntnis erst mit großer Verzögerung bewirkt, einen ähnlichen Wandel auch im Kompositorischen zur Kenntnis zu nehmen.
Wenn lange Zeit die amerikanische Musik hierzulande allein mit dem Jazz identifiziert wurde und als Repräsentanten bestenfalls Namen wie Gershwin oder Bernstein geläufig waren, dann hat das eine Vielzahl von Gründen. Zunächst und vor allem war (und ist) es wohl ein freilich unspezifisches Misstrauen, bei der Musik des Einwandererlandes USA könne es sich nur um adaptiertes europäisches Kulturgut handeln, quasi Kunst aus zweiter Hand. Die Nachwirkungen der Kunstpolitik des Dritten Reiches mit ihrer Ghettoisierung und die Parolen gegen eine beschworene Amerikanisierung nach dem Krieg mögen ebenfalls ihren Teil dazu beigetragen haben, dass eine Entwicklung verschlafen wurde, die bereits in den 1920er Jahren eingesetzt hatte, als amerikanische Komponisten zu- hauf zu Nadia Boulanger nach Paris kamen, um sich den letzten Schliff in dieser berühmten Musikerschmiede zu holen.
Wenn in den europäischen Zentren der Avantgarde, in Paris oder etwa bei einschlägigen Zusammenkünften in Darmstadt oder Donaueschingen, die Neuerungen oft eher akademisch- philosophisch diskutiert und akzeptiert oder verworfen wurden, hatte sich in den USA, besonders im rebellischen Hexenkessel New York, eine Entwicklung angebahnt, die sich nicht mehr um Zustimmung kümmerte. Mit kreativem Trotz stemmte sich da eine neue Musikergeneration gegen den Trend, nur europäische Musik in die Konzertsäle zu bringen. Und sie hatten Erfolg, die Reichs und Glass’ und wie die aufmüpfigen Neuerer alle heißen, die sich auf das rasende Tempo dieser Stadt einstellen konnten und bei denen man oft nur schwer unterscheiden konnte, zu welcher Kategorie Musik das gehört, was sie gerade präsentierten. Das Yeats-Gedicht, aus dem der Teaser zu diesem Artikel entnommen ist, benennt im weiteren Verlauf genau die Situation, die auch Bartók im gleichen Jahr 1926 beklagt hat: »Dieses ganze verworrene Durcheinander, das die Musikzeitschriften in einem Schwall über die Musik von heute ausspucken, lastet schwer auf mir: Schlagwörter wie linear, horizontal, vertikal, objektiv, unpersönlich, polyphon, homophon, tonal, polytonal, atonal und der ganze Rest …« Yeats, damals gerade einmal 63 Jahre alt, hatte Probleme, dem Tempo zu folgen, mit dem die »Kathedralen« der Musik eingerissen wurden, um neue zu bauen. »That is no country for old men« klingt resigniert und soll wohl auch so verstanden werden, wenn Yeats später klagt: »Den ganzen Sommer lang, was immer ist gezeugt, erlebt, erbleicht. Und keiner, sinnberauscht, erweist Respekt der Monumente ew’gem Intellekt!« Was er nicht mehr erleben konnte: Die ohne Rücksichten auf Bestehendes experimentierende Avantgarde schaffte den Durchbruch für eine amerikanische E-Musik, auch eine politisierte Musik »gegen den Optimismus des Pop, Chuck Berry und Millionen Burger« (Alex Ross), die am Ende sogar Einfluss nahm auf die europäische Avantgarde, die seit Anfang der 1960er Jahre eher steril geworden war. Philip Glass, der bekannteste Exponent der Minimal Music, bezeichnete die europäische Avantgarde als »ein wüstes Land, beherrscht von Wahnsinnigen, von kranken Gestalten, die alle anderen zwingen wollten, ebenso kranke, wahnsinnige Musik zu schreiben«. Dass später manche der »jungen Wilden« zaghaft wieder zu tonaleren Klängen und zugänglicheren Strukturen zurückgefunden haben, das ist eine andere, interessante Geschichte.
Die Situation amerikanischer Komponisten im deutschen Konzertbetrieb hat sich spürbar verbessert, doch ist das Angebot noch immer eingeengt auf eine wenig repräsentative Auswahl von Namen und Werken und zumeist bleiben Repertoire und Kenntnis beschränkt auf Stücke, die irgendwie vordergründig neu erscheinen, sich also von den gängigen Kompositionsmustern der europäischen Musik unterscheiden. Dieser Vorgang ist Chance und Beschneidung zugleich: Mit der längst fälligen Übernahme in das Konzertrepertoire wird der amerikanischen Musik schon ein Markenzeichen angehängt, das nur einen Teilbereich des Spektrums kompositorischen Schaffens in den USA beschreiben kann. Neben Werken, die deutlich die Anregung des Jazz belegen, gehört zu solchen pauschalen Typisierungen die für europäische Komponisten lange Zeit anrüchige Beschäftigung mit der Filmmusik und, ähnlich einschlägigen Vorgängen in der amerikanischen Malerei, die Anfertigung von Collagen aus der Verknüpfung von Zitaten sowie mit bildhaften, griffigen Titeln versehene Tonmalereien. Wenn vor nicht allzu langer Zeit bei uns Charles Ives als Komponist erstmals einem breiteren Publikum bekannt geworden ist (was einer Neuentdeckung gleichkam, obschon der 1954 verstorbene Komponist in den USA schon lange zur Kultfigur geraten war), verdankt er das nicht zuletzt so einprägsamen Titeln wie Variations on America oder dem Orchesterstück Central Park in the Dark, wogegen beispielsweise die Kammermusik noch immer der Entdeckung harrt.
Wer freilich den vermeintlich berechtigten Alleinvertretungsanspruch der Europäer auf die sogenannte »ernsthafte« Musik außer Acht lässt, wer einem erfolgreichen Musical- Komponisten auch gültige Werke nach gängigen E-Musik- Begriffen zugestehen kann, wer die zwangsläufige Einbeziehung harmonischer und rhythmischer Bestandteile des Jazz als das akzeptieren kann, was es tatsächlich ist: die Einbindung nationalspezifischer Eigenheiten, wie sie in der europäischen Musik allerorten unbeanstandet praktiziert worden ist – dem eröffnet sich eine musikalische Welt, die aus obengenannten Gründen bei uns viel zu lange kein Interesse gefunden hat.
Eine eigenständige Musiksprache
Hatte es die E-Musik aus den USA also schon immer schwer, sich auch nach tradierten europäischen Maßstäben als seriös zu behaupten, so trifft das in weit stärkerem Maße für die Gattung des Musicals zu. Besonders heftig sind die Komponisten in die Kritik der europäischen Hüter abendländischer Musiktraditionen geraten, die, aus ebendieser Tradition ausbrechend, sich der neuen Freiheiten aus Übersee, zu denen nicht zuletzt der Jazz gehört, bedienten. Dabei ist gerade die dabei gewonnene Form des musikalischen Ausdrucks dazu geeignet, sich dem Vorwurf des Plagiats zu entziehen, der den gängigen E-Musik-Formen angeheftet wird. Anders nämlich als bei den Kompositionsmustern, die von den in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, besonders aber von vor und während des 2. Weltkriegs in die Neue Welt emigrierten Künstlern aus Europa in die neue Heimat transportiert worden waren und natürlich quasi als Anleitung zur Entwicklung einer eigenen Tonkultur dienten, hat sich parallel aus ganz anderen, landesspezifischen Quellen eine musikalische Sprache entwickelt, die als völlig eigenständiges Produkt gar zum Exportschlager für den europäischen Markt geraten ist und, hierzulande mit Misstrauen betrachtet und mit mancher unqualifizierten Kritik konfrontiert, unter konservativen Musikfreunden noch immer einen schweren Stand hat. Da das Musical (und weitestgehend der Jazz) ausnahmslos der Tonalität verhaftet geblieben ist, hat es sich gleichzeitig mit den Avantgardisten verdorben. Und wer geglaubt hatte, mit der mit indianischen Motiven angereicherten Sinfonie Aus der Neuen Welt Antonín Dvořáks sei der richtige Weg vorgegeben, dem hat schon Dvořák selbst entgegnet: »Das ist und bleibt tschechische Musik.«
Die Quellen dieser Entwicklung, die sowohl eine am Ende doch eigenständige E-Musik nach europäischem Verständnis befruchtet, aber auch eine Form wie das Musical hervorgebracht hat, sind vielfältig und es ist bemerkenswert, dass gerade so, als hätte Brahms auch Operetten komponiert, die Protagonisten zumeist in beiden Gattungen gleichermaßen »sattelfest« waren – ein Vorgang, der hierzulande bis heute nachwirkende Irritationen ausgelöst hat. Bekanntestes Beispiel für diese in beiden Lagern gleichermaßen beheimateten und am Ende auch anerkannten Komponisten sind Leonard Bernstein oder Kurt Weill gewesen. (Offensichtlich hatten und haben amerikanische Komponisten weniger Sorgen, sich mit Ausflügen in den populären Musikbetrieb oder die Filmindustrie den Ruf der Ernsthaftigkeit zu verscherzen.) Die außerordentliche Vielfalt der Einflüsse aus den Assimilationsprozessen des Einwandererlandes USA und die musikalische Kraft des afrikanischen Bevölkerungsanteils hatten bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Vielzahl von musikalischen Ausdrucksformen entstehen lassen, derer sich auch die Repräsentanten der gehobenen Unterhaltungsmusik bedienen konnten wie auch die Schöpfer der Musicals zu Beginn des 20. Jahrhunderts. »…nicht weniger vital waren verschiedene Arten von Musik mit volkstümlicherem, weniger anmaßendem Gepräge, eine Musik, die nicht verlegen aus Europa entlehnt war, dafür aber tiefer in der amerikanisch-demokratischen Kultur wurzelte. Diese Musik umschloss kirchliche Volks- und Evangelienlieder, Lieder der Negro Minstrel Shows, Märsche, Operetten und Tanzmusik verschiedener Art, auch Ragtime und den frühen Jazz.«
Es bedurfte der Arroganz der Autoren der frühen Ausgabe des berühmten Musiklexikons MGG, dessen Ursprung noch auf die NS-Zeit zurückgeht, um die aus solchen Quellen genährte Entwicklung des Musicals in den zeitgleichen Bedeutungsverlust der Operette einzubeziehen. »So mag es im Hinblick auf die Operette … genügen, auf ihre mit den Namen Offenbach, Suppé … verbundenen Anfänge, auf ihre reizvollen Entwicklungsstufen in Paris, Wien und London … zu verweisen sowie auf die bereits von … Vulgarität (Berlin) [damit mag Weill gemeint sein, Anm. d. Red.] angekränkelte spätere Periode, die ungeachtet vieler Treffer … nach einem Stadium des Absinkens und künstlerischen Formverlusts (Revue) zu einem Verfall führte, den weder das Aufkommen der Tonfilm-Operette noch die Form-Variante des Musicals zu verschleiern vermag.« Welch ein Irrtum! Nicht nur, dass es sich bei dem Musical eben nicht um eine Form-Variante der Operette, vielmehr um eine völlig eigenständige Entwicklung handelt. Auch die Kraft dieser neuen Form des Musiktheaters und nicht zuletzt die Qualität der Aufführungen, die Musik, Handlungsabläufe und darstellerische und tänzerische Präzision der Zeit gemäß im höchsten Maße beschleunigt präsentierten, ist peinlich unterschätzt worden. Denn heute sind auch bei uns das Musical und die aus ihm hervorgegangenen populären Songs – wenn schon nicht bei den konservativen Musikfreunden, so doch beim breiten Publikum – anerkannt und haben im Sinne einer qualitätsvollen Unterhaltung und mit ihren zeitbezogenen Themen die Stelle eingenommen, die früher die Operette besetzt hielt.
Wenn heute Broadway-Songs und Stücke aus schon »klassischen « Musicals von George Gershwin, dem begnadeten Song-Schreiber, Irving Berlin, dem aus Sibirien (!) stammenden Show-Komponisten und Schöpfer so erfolgreicher Musicals wie Annie Get Your Gun oder dem als Dirigenten klassischer Musik und Komponisten höchst anspruchsvoller E-Musik wie auch als Schöpfer erfolgreicher Musicals wie West Side Story gleichermaßen berühmt gewordenen Leonard Bernstein, auch dem eng mit Bert Brecht verbundenen Kurt Weill und seinem Welterfolg Dreigroschenoper erklingen, dann ist das wie ein Querschnitt durch eine Musikgattung, die eben nicht nur ein zeitlich befristetes Dasein, vielmehr eine verdient stabile Position im Musikbetrieb unserer Zeit erringen konnte.
Dr. Franz Tröger
Literaturhinweis:
»The Rest Is Noise – Das 20. Jahrhundert hören« von Alex Ross (Taschenbuch bei Piper). Die Musikentwicklung Amerikas nimmt darin, eingebettet in die Zusammenschau kultureller Brüche des vorigen Jahrhunderts, einen erstaunlich breiten Raum ein und bekräftigt damit die Bedeutung der bei uns so lange kaum beachteten Musikkultur aus den USA. Das alles ist kenntnisreich und dennoch »amerikanisch« locker ausgebreitet.