Britain – Land without Music
Einem Vorurteil auf den Zahn gefühlt
»Ich habe lange gesucht, was es eigentlich für ein Mangel ist, der immer wieder hinter so vielen englischen Vorzügen fühlbar wird und so erstarrend wirkt. Ich habe mich gefragt, was diesem Volk fehlt, etwa Güte, Menschenliebe, Frömmigkeit, Humor, Kunstsinn? Nein, alle diese Eigenschaften sind in England vorhanden, manche sogar sichtbarer als bei uns. Und schließlich habe ich etwas gefunden, was die Engländer von allen andern Kulturvölkern in geradezu erstaunlichem Maß unterscheidet, einen Mangel, den jeder zugibt – also gar keine neue Entdeckung – dessen Tragweite aber wohl noch nicht betont worden ist: Die Engländer sind das einzige Kulturvolk ohne eigene Musik (Gassenhauer ausgenommen).«
Oskar A.H. Schmitz in: Das Land ohne Musik: englische Gesellschaftsprobleme, 1914
Im Sommer 2010 erschien in der Neuen Zürcher Zeitung unter dem obigen Titel eine Abhandlung, die sich mit dem nicht erst seit dem unsäglich unreflektierten Verdikt von Oscar A.H. Schmitz gängigen Vorurteil auseinandersetzte, es gebe eigentlich keine irgendwie geartete englische Musik. Dass es dem Rezensenten angebracht schien, sich mit dieser bei uns kritiklos übernommenen Einschätzung auseinanderzusetzen, die sich bei Schmitz in eine generelle Gesellschaftskritik eingebettet findet, zeigt, wie fest sich dieses Vorurteil in unser Denken eingenistet hat und damit noch immer unseren Umgang mit der Musik Großbritanniens prägt. Und wenn man dann einmal etwas genauer Ursachen und Wirkungen dieses Vorurteils nachgeht, fördert man die erstaunliche Feststellung zutage, dass Schmitz diesen Satz wörtlich aus einem bereits 1866 erschienenen Pamphlet eines Carl Engel übernommen hat, und noch erstaunlicher: Die Engländer haben sich mit diesen höchst unqualifizierten Angriffen recht ernsthaft auseinandergesetzt. Unqualifiziert deshalb, weil zu diesem Zeitpunkt das ja selbst von den Engländern unbestrittene Fehlen einer eigenständigen Musikentwicklung auf dem besten Wege war, überwunden zu werden: Sullivan hatte die Oper mit einer ganz eigenen Kreation wiederbelebt, einer komischen Oper englischen Stils. Und Edward Elgar, wegen seiner Verdienste um die englische Musik, besonders für seine auch auf dem Kontinent erfolgreichen Enigma-Variationen, bereits zum Sir geadelt – was Schmitz sicher wusste – hatte nicht nur sein heimisches Publikum überzeugt. Als dem nun wirklich erfahrenen, zuvor in Wien mit Uraufführungen für Brahms, Bruckner und Tschaikowsky betrauten Dirigenten Hans Richter 1908 die Uraufführung von Elgars erster Sinfonie übertragen wurde, gab er eine Einschätzung zu Protokoll, die trotz ihrer »freundlichen« Übertreibung zu beachten ist, wenn man sich der englischen Musik nähert: »Gentlemen, lassen Sie uns nun die größte Sinfonie unserer Zeit proben, die vom bedeutendsten heute lebenden Komponisten geschrieben wurde.«
Ein nur kurzer Abriss mag die Situation gegen Ende des 19. Jahrhunderts klären. Nach einer kulturellen Blütezeit unter der Tochter Heinrichs VIII., Elisabeth I., in der englische Komponisten wie William Byrd oder John Dowland zu den bedeutendsten Musikern Europas zählten, gab es noch einmal einen bemerkenswerten Höhepunkt im Barock durch Henry Purcell, dessen Ausstrahlung bis zu Britten oder Tippett reicht. Was folgte, das waren Importe vom Festland wie Georg Friedrich Händel, Johann Christian Bach und besuchsweise Joseph Haydn. Bereits Beethoven war sich nicht mehr sicher, ob ein Besuch wie der Haydns sinnvoll sei, weil er dem dort inzwischen vorherrschenden musikalischen Klima misstraute und er daher Reisepläne auf die Insel nicht weiter verfolgte. Auch im 19. Jahrhundert, während der Hochblüte der deutschen Romantik, regten sich in England nur sporadische Ansätze, zumeist freilich stark beeinflusst vom Kontinent. Heinrich Heine nahm diese Entwicklungsstarre zum Anlass, 1838 in seinem Esssay Shakespeares Mädchen und Frauen den Engländern den Sinn für Musik abzusprechen.
Und selbst Robert Schumann hatte diese Situation zu berücksichtigen, als er ein Jahr zuvor eine Lanze für William Sterndale Bennett brach: »In der Tat, wär‘ es denn ein Wunder, wären sich Dicht- und Tonkunst so fremd, dass jenes hochberühmte Land, wie es uns Shakespeare und Byron gab, nicht auch einen Musiker hervorbringen könnte!« Und wenn er später Bennetts »Bruderähnlichkeit« mit Mendelsssohn beschwört, nachdem er noch auf Field und Onslow verwiesen hat, war eigentlich schon die gesamte musikalische Prominenz Englands zu jener Zeit abgehandelt. Die Frage, welcher Hemmschuh die unter der Regentschaft von Königin Viktoria einsetzende industrielle Revolution mit ihrer besonders umwälzenden Auswirkung auf die englische Gesellschaft und das verstärkte Interesse an kolonialen Erwerbungen bedeutete, bedürfte einer eigenen Betrachtung.
Dann freilich tauchte gleich eine ganze Reihe bemerkenswerter Komponisten auf, alle um die Mitte des 19. Jahrhunderts geboren, die, jeder auf seine Weise, eine Entwicklung in Gang setzten, die umso bemerkenswerter ist, als sie keine Grundlage in ihrer Heimat vorfinden konnten. Das hatte freilich auch seine Vorzüge, da sie quasi »unbefangen« ans Werk gehen konnten, getreu Lessing: »Ich habe auf kein gewisses System schwören müssen. Mich verbindet nichts, eine andre Sprache, als die meinige, zu reden.« Besonders das Dreigestirn Arthur Sullivan, Hubert Parry und Edward Elgar haben sich in jener Phase unendliche Verdienste erworben. Diese drei Musiker, dazu noch die gleichaltrigen Charles Villiers Stanford aus Irland und der Schotte Alexander Mackenzie, nicht zu vergessen die Brahms-Verehrerin Ethel Smyth, eine der ersten wirklich bedeutenden Komponistinnen nicht nur Englands, legten den Grund für eine bestaunenswerte Entwicklung, die unser Herr Schmitz kannte oder hätte kennen müssen, als er mit seinem zu Beginn zitierten Machwerk an die Öffentlichkeit trat.
Wie schwer sich die englischen Musiker selbst mit der Einordnung der insularen Musik getan haben, belegt die Haltung des weltweit geachteten Komponisten Benjamin Britten, aus dessen Tagebucheintragungen hervorgeht, dass er die Weiterentwicklung der englischen Musik höchst skeptisch beurteilte. Selbst einen Elgar, der ansonsten einhellig als einer derjenigen ins Feld geführt wurde, eigenständige englische Musik zu schreiben, wollte er nicht gelten lassen. »I wish I could like his music«, notierte er. Damit widersprach er dem Verdikt von George Bernard Shaw, der einzig Elgar gelten lassen wollte, im übrigen aber 1919 kurzerhand postulierte, dass britische Komponisten keine britische Musik zu komponieren verstünden, »except trivial drawing-room music or vulgar dance music with less national character than their knifes and forks.« (Hier entdecke ich in den mir vorliegenden Dokumenten erstmals die explizite Bezeichnung »britische« Musik, was diejenige von Schottland, Wales und Irland einschließt.) Damit ignorierte er nicht nur die Leistungen der vorgenannten Pioniere; inzwischen waren auch Werke des musikalischen Schwergewichts Ralph Vaughan Williams und anderer wie Arnold Bax oder Arthur Bliss in Umlauf. Doch noch heute flüchten sich englische Musiker oft in etwas nebulöse Formulierungen, wenn sie sich zum Charakter der britischen Musik äußern. Als Simon Rattle 2009 nach seinem Verhältnis zur englischen Musik gefragt wurde, antwortete er: »Ich meine: Wir Engländer hören uns alles an und spielen alles, ohne uns dabei zu fragen, ob das nun richtig ist oder falsch. England gilt als ›Das Land ohne Musik‹. Anyway. Der Vorteil ist: Deshalb gehört auch alles zu unserem Spielplatz. Wir stellen uns nicht die Frage, ob dieses oder jenes Stück nun unbedingt zum großen klassischen Kanon gehört. Das ist eher eine spezifisch zentral-europäische Denkweise. Wir Engländer schauen als Außenseiter darauf, wir sind neugierig auf alles.«
Damit ist eigentlich abseits aller musikologischen Exegesen gesagt, worauf wir uns einzulassen haben, wenn wir der Musik aus Großbritannien begegnen. (Wegen der ja nicht auf England beschränkten, schon durch die zentrale Stellung der College of Music parallel laufenden Entwicklung in Schottland, Irland und Wales wird hier bewusst dieser umfassende Gebietsbegriff gebraucht.) Zumindest seit den Zeiten Elgars, Sullivans und Parrys ist Schmitz‘ böse Verleumdung als pure Denunziation entlarvt. England, oder besser: Großbritannien ist nicht ein Land ohne Musik, es hat vielmehr eine andere musikästhetische Entwicklung erfahren. In den zurückliegenden Jahrzehnten hat sich in Großbritannien eine Reihe origineller, zeitgenössischer Komponisten etabliert, die von der teilweise als unzugänglich zu empfindenden Avantgarde bei uns nur mit Erstaunen registriert werden kann. Ablehnung kommt nur aus dem Lager derer, die den Briten nicht verzeihen wollen, dass es bis vor nicht langer Zeit eine deutliche Zurückhaltung gegenüber seriellen und zwölftönigen Techniken gab. »Deren [der Briten] Werke bewegen sich erfrischend unberechenbar zwischen ironischem Traditionalismus, snobistischem Schönheitskult und vergnüglicher Provokation« – schön gesagt. Auch dass es neben der im allgemeinen Sprachgebrauch als »klassisch« bezeichneten Musik längst auch auf anderen musikalischen Gebieten ein starkes (und berechtigtes) Selbstbewusstsein in Großbritannien gibt, hat als wichtige Grundlage für die lange Zeit die Welt des Pop und Punkrock beherrschende Musikkultur von Gruppen wie den Beatles, den Rolling Stones, Oasis oder auch dem weltumspannenden Erfolg der Musicals eines Andrew Lloyd Webber gedient. Jedenfalls erschöpft sich der britische Beitrag zur europäischen Musik eben nicht in den populären »Schlachtrössern« der Proms-Konzerte.
Farewell the neighing steed, and the shrill trump,
The spirit-stirring drum, the ear-piercing fife,
The royal banner, and all quality,
Pride, pomp and circumstance of glorious war!
Fast könnte man glauben, dass Shakespeares Vorgabe im Othello den imperialen Charakter mancher Stücke von Elgar oder Walton geprägt hat, »Pride, pomp and circumstance« eben – Stücke, die heute bei uns zu Unrecht stellvertretend für die gesamte britische Musik stehen. Dass dem nicht so ist, mag nachgehört werden, wenn es in Kempten heißt: Classix – very british. Denn bei uns fast unbemerkt hat seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Renaissance eingesetzt, die der Musik aus Großbritannien den unseligen Ruch der intellektuellen Mittelmäßigkeit genommen hat. Längst ist anerkannt, was der Dirigent Colin Davis in den 90er Jahren so ausgedrückt hat: »Zukünftige Generationen werden in dieser [britischen] Musik des 20. Jahrhunderts universale Qualitäten finden. Großbritannien ist nicht länger ›das Land ohne Musik‹.«
Einer der Vorkämpfer für diese quasi als Reanimation zu bezeichnenden Vorgänge, der Komponist Arthur Sullivan, beklagte 1888 die von ihm vorgefundene Situation: »Wir gaben uns damit zufrieden, Musik zu kaufen, während wir Kirchen, Dampfmaschinen, Eisenbahnen, Baumwollspinnereien, Verfassungen, Ligen gegen die Getreidezölle und Parteiausschüsse machten.« Dass die Durchsetzung der inzwischen sehr selbstbewusst erscheinenden britischen Musikkultur freilich von ihren Exponenten selbst noch immer mit einem latenten Misstrauen betrachtet wird, kann man aus einem Interview herauslesen, das der Bruder unseres Composer-in- Residence, Colin Matthews, 2009 gegeben hat. »Britische Musik lässt sich nicht leicht kategorisieren. Für mich ist das etwas Positives, aber ich kann verstehen, dass die Schwierigkeit, zu sagen, was britische Musik eigentlich heute darstellt, ihre Verbreitung schwieriger macht.« Und: »Ich glaube, manchmal erstaunt britische Musik das europäische Publikum, weil sie keinen definierten Mustern folgt. Es gibt keine ›Schulen‹ und wenige, die behaupten würden, einer bestimmten Ästhetik zu folgen.«
Ja – da kann man nur frei von Vorurteilen eintauchen in die für uns manchmal ungewohnte musikalische Welt von der Insel.
Dr. Franz Tröger