Kammermusik aus Italien?
Musica da camera – natürlich, auch im Land der Oper wurde sie gepflegt und strahlte in die musikalische Welt hinaus, aber doch nur im Barock. Arcangelo Corellis stilbildende Violinsonaten. Domenico Scarlattis gewaltiges Werk für Cembalo. Um nur zwei prominente Beispiele zu nennen. Na ja, da gab es noch den liebenswerten Luccheser Cellisten Luigi Boccherini, der gleichzeitig mit Joseph Haydn das Streichquartett »erfand«, viel mehr aber das Streichquintett. Hübsche Musik – und ein paar Schlager wie das »Fandango-Quintett« werden immer gern gehört. Aber dann? Wo sind sie, die italienischen Beethovens, Schuberts und so weiter? In der Romantik gewann die Oper in Italien die Oberhand. Da blieb kein Platz für Kammermusik. Übrigens auch kaum für Orchesterwerke. Eher noch für Messen. So die weit verbreitete Meinung. Erst in der Avantgarde, etwa bei Luigi Nono oder Luciano Berio, fand Instrumentalmusik im Sehnsuchtsland der Nordeuropäer wieder Gefallen und Gehör. Aber leider kein großes Publikum. Der italienischen Oper war nämlich spätestens nach 1945 die Luft ausgegangen – besser gesagt, die Melodie. Ausnahmen bestätigen die Regel.
Ein Klischee? Im alltäglichen Betrieb der Konzertsäle begegnet man aus der Zeit nach Boccherini vor allem einem Streichquartett aus Italien, dem Giuseppe Verdis. Zweifellos das singuläre Werk eines Großmeisters des Musiktheaters. Hin und wieder entdecken Ensembles auch die »Crisantemi« des Giacomo Puccini, selten, aber doch, das eine oder andere Streichquartett Gaetano Donizettis. Klarinettisten lieben ein paar Virtuosenstücke Gioachino Rossinis. Oboisten entdecken ein nettes Concertino von Vincenzo Bellini. Pianisten kennen die köstlichen »Alterssünden« Rossinis, spielen sie aber offenbar lieber nur in der Studierstube und manchmal im Studio. Ermanno Wolf-Ferraris Kammermusik steht im Schatten seiner Buffo-Opern. Man sieht, bei all diesen Ausnahmen handelt es sich um Seitensprünge von bekannten und beliebten Maestri der Opernbühne.
Und das ist schade. Denn die Kammermusik in Italien ist wahrlich nicht um 1800 so gut wie ausgestorben. Dies zu widerlegen hat sich »CLASSIX Kempten« vorgenommen. Nur ein einziger der oben genannten wenigen »Hits«, der von Boccherini, findet sich in Oliver Triendls faszinierendem Programm. Die Schatzsuche war zu erfolgreich, um das zu spielen, was ohnehin alle spielen. Die Opernmaestri sind in dieser Konzertfolge in der Minderheit und meist solche, die nur mehr selten gespielt werden – Zingarelli, Mercadante, Pacini. In gewisser Weise gehören dazu auch Ottorino Respighi, der Sonderfall eines erfolgreichen italienischen Komponisten symphonischer Tondichtungen, und Wolf-Ferrari, deren Opern heute leider weit unter ihrem Wert gehandelt werden. Hommagen an den seit 150 Jahren toten, aber in seiner Musik quicklebendigen »Jahresregenten« Rossini dürfen nicht fehlen. Und seit dem 20. Jahrhundert gibt es einen neuen Typus unter Italiens Komponisten und nun auch Komponistinnen, nämlich solche, die zwar bedeutende Opern schaffen, aber dazu und gar nicht daneben viel mehr Instrumentalmusik als Verdi oder Puccini – Busoni, Malipiero, Rota, Maderna, Berio. Manchmal ersetzte der Film quasi die Bühne, im Oeuvre Nino Rotas nur zum Großteil, in jenem Ennio Morricones praktisch komplett. Und es wird viele Leute immer noch erstaunen, welch originelle Kammermusik die Meister der Soundtracks von »Il Gattopardo« oder »Spiel mir das Lied vom Tod« geschaffen haben.
Die Entdeckungsreise von »CLASSIX Kempten« führt natürlich in Gefilde wohliger Spätromantik zu Martucci und vitaler Klassizität zu Casella, um wieder nur zwei Namen zu nennen. Und zu vielen zumindest in nördlicheren Breitengraden Unbekannten, die es zu entdecken gilt. Dabei ist eine Frau, Matilde Capuis, erst voriges Jahr 103jährig gestorben. Und als Composer-in-Residence steht eine Frau von heute im Zentrum, Virginia Guastella, geboren 1979 in Palermo. Sie schreibt Musik, die sich nicht so leicht in eine Schublade stecken lässt. Postmoderne? Crossover? Einfach spannende neue Musik, ohne die Tradition zu verleugnen. Die von Corelli bis Salvatore Sciarrino, der einer von Virginia Guastellas Lehrern war. Kammermusik, Orchesterstücke, Musik zu alten Stummfilmen schreibt sie. Und elektronische Stücke. Bis jetzt keine Opern, aber das kann sich ändern. Ohne die Leidenschaften des Gesangs kommt sowieso kaum eine Musik des Südens aus. Die meist nicht einmal in hoch experimentellen Stücken der Moderne ganz zu verleugnende Kantabilität, der mitschwingende Belcanto, das mitreißende Brio der Oper geben Italiens Instrumentalmusik bis heute besonderen Reiz.
Gottfried Franz Kasparek